Rennräder sind Reflexionsmaschinen

am . Veröffentlicht in killhill

Österreichs bekanntester Philosoph ist Rennradfahrer. Für Konrad Paul Liessmann ist das Fahrrad ein Zwitterwesen zwischen Natur und Zivilisation. Rennrad fahren setzt bei ihm Meditationsschübe in Gang und hat ihm schon geholfen, so manches Problem zu lösen.
Auf den "Kontemplations- und Reflexionsmaschinen", wie er sie im ORF-Interview nennt, spult der 60-Jährige pro Jahr bis zu 8.000 Kilometer ab.

science.ORF.at: Wir sind uns schon mal begegnet beim Radfahren. Es war im Wienerwald nach einer längeren Ausfahrt, Sie haben mich auf dem letzten Berg überholt, dann bin ich Ihnen mit meinen letzten Kräften nachgefahren und habe Sie wieder eingeholt. Sportreporterfrage: Wie geht es Ihnen, wenn Sie von anderen Radfahrern ein- oder gar überholt werden?
Konrad Paul Liessmann: Damit habe ich keine Probleme, ich bin niemals wettkampfmäßig gefahren, war auch nie Mitglied eines Sportklubs. Ich fahre im Wesentlichen für mich, das Rennrad ist für mich ein Instrument der Meditation und Selbstreflexion und nicht eines der Konkurrenz. Mit zunehmendem Alter ist auch klar, dass die meisten anderen jünger und damit schneller sind, das bereitet mir keine Sekunde Kopfzerbrechen.

Viele Radfahrer fahren mit bunten Trikots samt Werbeaufschriften herum - wie darf man sich Professor Liessmann auf dem Rennrad vorstellen?
Natürlich trage ich auch die Funktionskleidung, die man fürs Radfahren benötigt. Aber ich achte darauf, erstens keine Trikots mit Werbung zu tragen - bisher ist leider niemand auf die Idee gekommen mich dafür zu bezahlen - und zweitens auch keine von Profimannschaften. Das finde ich eher peinlich, zumal das oft Teams sind, die es schon lange nicht mehr gibt, weil sie unter irgendwelchen skandalösen Umständen ihren Sport aufgeben mussten.

Sie haben in dem Buch "Universum der Dinge" u.a. eine "Hommage an das Rennrad" geschrieben - womit verdient es das?
Das war einerseits Resultat meiner Begeisterung für das Rennradfahren und andererseits ein kleines philosophisches Spiel. In dem Essay vertrete ich die These, dass das Rennrad der platonischen Idee des Rades am nächsten kommt. Es verkörpert in seiner Form und Materialität alles, was das Rad ausmacht: nämlich ein optimales Verhältnis zwischen der Schönheit eines Fortbewegungsmittels und der effizientesten Möglichkeit, menschliche Muskelkraft auf mechanische Art und Weise in Bewegung umzusetzen. Andere Formen von Rädern scheinen mir nur Varianten zu sein gegenüber dieser idealtypischen Gestalt.

Ist das Fixie - mit einem Gang, oft auch ohne Bremsen - in diesem Sinn nicht noch näher an der platonischen Idee des Rades?
Auf den ersten Blick ja, aber: Die Idee des Rades besteht aber darin, durch mechanische Kraftübertragung Muskelkraft in Bewegung umzusetzen. Die Erfindung der Schaltung ist eine der Möglichkeiten, das Mechanische zu optimieren. So wie man durch einen Hebelzug Muskelkraft verstärken kann, kann ich das auch durch eine Schaltung. Dass ich schalten kann, liegt in der Idee des Kettenantriebs selbst. Insofern ist eine Schaltung keine Abkehr von der idealtypischen Gestalt des Rades. Heute Fahrräder zu fahren ohne Schaltung und Bremse halte ich für eher manieristisch.

Sie würden also kein Fixie fahren?
Nein, schon weil ich das Gerät nicht beherrsche. Als artistisches Zirkusgerät ist es sicher wunderbar. Für mich geht es beim Radfahren aber v.a. darum, Räume und Landschaften zu durchqueren. Und um etwa einen Alpenpass zu bezwingen, braucht man bestimmte Übersetzungen und bei der Abfahrt auch Bremsen.

Der amerikanische Schriftsteller Henry Miller war als Jugendlicher ein großer Radfan. Er hatte ein Bahnrad von einem Sechs-Tage-Rennen im New Yorker Madison Square Garden erworben, das er sehr geliebt hat. Als ihn einmal seine Mutter gefragt hat, ob er es nicht auch gleich ins Bett mitnehmen möchte, erwiderte er: "Wenn das Bett größer wäre, ja". Würden Sie das auch mit Ihrem Rennrad machen?
Mein Rad steht zwar nicht achtlos im Keller, sondern in der Wohnung - aber nicht im Schlafzimmer. Es wird sorgsam gepflegt, denn es ist ein Gerät, dem man bis zu einem gewissen G her bunt. Auch dagegen habe ich nichts, aber noch lieber ist mir die puristische Note.

Zum Radfahren selbst: Worin liegt der Reiz dieser Bewegungsform?
Das hat viele Aspekte. Auf der einen Seite übersetzt das Fahrrad Körperkraft in eine Geschwindigkeit, die jene des laufenden Menschen überschreitet. Man ist aber nicht so schnell, dass man nichts mehr sieht wie auf einem Motorrad oder in einem Auto. Das Fahrrad verändert durch Mechanik die Möglichkeiten des Körpers, ist seinen Bedingtheiten aber dennoch unterworfen. Es kann nur umsetzen, was meine Muskeln, meine Disziplin, auch meine Bereitschaft, mich zu quälen hergeben. Ich kann mich nicht auf einen Motor ausreden.

Das Fahrrad ist also Werkzeug im besten Sinn des Wortes: Organverbesserung, aber nicht Organersatz. Das macht es zu einem Ausdruck von Zivilisation, es ist nicht Natur wie der laufende Mensch, der so läuft, wie ihn die Evolution hervorgebracht hat. Das Rad an sich gilt schon als eine der großen technischen Errungenschaften. Das Fahrrad ist aber nicht Teil jener motorisierten Welt, die eine Eigendynamik entwickelt, der der Mensch nachhinken muss. Ein Motor kann 24 Stunden pro Tag laufen. Sobald es Maschinen gab, stellte sich das Problem, wie die Menschen mit ihnen mithalten können. Das Fahrrad gibt mir nichts vor, es ist in diesem Sinne keine Maschine.

Eine Frage, die der Technikkritiker Günter Anders aufgeworfen hat - wäre er demzufolge lieber mit dem Rad gefahren als mit dem Auto?

Ich denke, ja, er ging aber am liebsten zu Fuß. Auf der anderen Seite ist auch klar, dass es immer schon der Traum des Menschen war, eine Welt zu schaffen, in der Geräte zu dienstbaren Geistern mutieren, die unabhängig von der eigenen Muskelkraft arbeiten. Schon Sklave und Pferd waren die Muskelkraft des anderen und nicht die eigene. Das Rad hat hier eine interessante Zwitterstellung. Vielleicht ein Grund, warum es in einer Welt, die sich fast vollkommen der Motorisierung verschrieben hat, noch immer so etwas Antiquiertes gibt. Radfahren setzt Energie auf eine letztlich vorindustrielle Art um.

In dieser antiquierten Situation gibt es auch viel Gleichmäßigkeit: das Treten. Da fällt als nächstes Wort oft: Kontemplation. Erreichen Sie die beim Radfahren?
Ja. Für mich ist das Rad eine Kontemplations- und Reflexionsmaschine. Immer vorausgesetzt, die äußeren Rahmenbedingungen stimmen: Die Landschaft muss so sein, dass man in einen gleichmäßigen Tretrhythmus kommt, ideal ist eine allmählich ansteigende Bergstraße, der Verkehr muss sich in Grenzen halten Bei mir setzt Rad fahren dann Ideen, Erinnerungen bis hin zu Formulierungen frei. Ich habe die erstaunliche Erfahrung gemacht: Wenn ich ein Problem habe, etwa eine Blockade beim Schreiben - wenn ich dann drei oder vier Stunden im Sattel sitze, kann sich das lösen. Begriffe kommen, Argumente fügen sich wie von selbst, was eher nicht funktioniert hätte, wenn ich am Schreibtisch sitzengeblieben wäre.

Rad fahren schüttelt irgendwie die Nervenzellen im Gehirn durcheinander …?
Was hier physiologisch geschieht, kann ich nicht beschreiben. Aber es gibt viele Hypothesen, wonach körperliche und geistige Aktivitäten zusammenhängen. Schon die antiken Philosophen waren Peripatetiker, d.h. sie konnten am besten im Gehen, in der Bewegung denken und sprechen. Es mag sein, dass gerade die kreisende, rhythmische Tretbewegung beim Radfahren einen meditativen Schub auslöst. Gleichzeitig muss man als Radfahrer aber auch sehr konzentriert sein, den Blick auf der Straße richten und alle Sinne aufnahmebereit halten.

Sie würden also auch nicht mit Kopfhörern Rad fahren?
Niemals. Einerseits wegen Sicherheitsbedenken, andererseits: Wenn ich durch die Landschaft radle, höre ich Dinge wie das Rauschen des Windes oder das Tier, das neben der Straße durchs Geäst bricht - Dinge, die man als Autofahrer nicht hört. Das ist ja das Schöne! Autofahrer spüren auch nicht den Fahrtwind oder Veränderungen der Temperatur.

Wer einmal von 600 Höhenmetern auf einen Pass in den Alpen auf über 2.000 Metern hinaufradelt, kann innerhalb von zwei Stunden vier Klimazonen durchfahren. Mit dem Auto ist man einfach oben und sieht nur an der digitalen Temperaturanzeige, dass es unten 30 und oben neun Grad hat. Als Radfahrer spürt man das direkt auf der Haut. Das sind sinnliche Intensitätserlebnisse, die in unserer Welt sehr selten geworden sind.

Dazu passt auch die Geschwindigkeit: Sie schreiben in Ihrem Buch von einem "angenehmen Grauen", das sich speziell beim Bergabfahren einstellt …
Beim Rennradfahren hat man eine große Bandbreite von Geschwindigkeiten: vom sehr langsamen Bergauffahren über das Dahingleiten in der Ebene mit 30 km/h bis zu den Abfahrten, wo man sehr schnell sein kann. Bei solchen Abfahrten spürt man die urtümliche Lust an der Geschwindigkeit. Sie war auch ein Motiv dafür, dass die Menschen sich Geschwindigkeitsmaschinen bauten, sobald sie es technisch konnten: Schneller zu sein als man selbst, das war immer ein Traum der Menschen.

Etwas von dieser Lust spürt man, wenn man sich eine schön geschwungene Alpenstraße hinunterwirft. Auf der anderen Seite ahnt man auch das Risiko, dem man sich nahezu ungeschützt aussetzt. So entsteht ein angenehmes Grauen: Solche Erfahrungen begleiten die ästhetische Diskussion seit dem 18. Jahrhundert - wir erleben Situationen dann besonders intensiv, wenn die Empfindungen vermischt sind.

Jetzt muss die Frage nach dem Tod kommen. Simone de Beauvoir hatte einmal in Begleitung von Jean-Paul Sartre in den französischen Alpen einen schweren Radunfall. Sie überlebte verletzt, hatte Todesangst, durch diesen Moment der Angst danach aber die prinzipielle Angst vor dem Tod verloren, wie sie schreibt. Können Sie das nachvollziehen?

Nur theoretisch. Ich bin zwar einmal mit dem Mountainbike schwer gestürzt, weil ich mich verbremst hatte, und das hat lange wehgetan. Aber solche metaphysischen Einsichten sind mir verwehrt geblieben. Ich suche nicht die Nähe zu einem womöglich tödlichen Risiko, so gehe ich nicht mit dem Leben um.


Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at